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Christian Prunitsch

Sorbische Literatur nach 1945

Ähnlich wie die polnische Literatur steht die sorbische Literatur in den Jahren nach 1945 unter dem Schock des eben erst zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs. Der Verlust einer Reihe wichtiger Autoren wie Jakub Lorenc-Zalìski (gest. 1939), Jurij Chìžka (gest. 1944) oder Jan Skala (gest. 1945) muss kompensiert werden; zugleich stellt sich der sorbischen Literatur die schwere Aufgabe, nach fast einem Jahrzehnt staatlich verordneten Schweigens ihre neue Rolle in den Umwälzungen der Nachkriegszeit zu definieren. Bereits sehr früh werden die Postulate des Sozialistischen Realismus an die sorbische Literatur herangetragen, deren Autoren sich dem neuen ideologischen Gebot meist bereitwillig unterordnen. Geht die Phase der Dominanz des Sozialistischen Realismus in Polen 1956 zu Ende, so gelingt in der sorbischen Literatur dessen Überwindung erst in den späten sechziger Jahren in der Lyrik, während für die Gattungen der Epik und der Dramatik mutigere Auseinandersetzungen mit der verordneten Doktrin für die siebziger und achtziger Jahre verzeichnet werden können.

Die im Literaturverständnis des Sozialistischen Realismus wichtige Einbindung der Tradition gestaltet sich im sorbischen Fall umso leichter, als die zentralen thematischen Bereiche der sorbischen Literatur, nämlich Patriotismus, Religion und Folklore, in den bestimmenden Parametern des Sozialistischen Realismus wiedergefunden werden können: Parteilichkeit, kommunistische Teleologie und Volkstümlichkeit bzw. Volksverbundenheit. Dies erleichtert den Übergang von einer ideologisch definierten nationalpatriotischen zu einer ebenso ideologisch definierten sozialistischen Literatur.

Zwei unmittelbar nach dem Krieg entstandene Werke erproben Varianten des neuen Selbstverständnisses der sorbischen Literatur als einer von deutscher geistiger Unterdrückung befreiten. Das im August 1945 entstandene Poem „Erfurtske spomnjeœa“ („Erfurter Erinnerungen“) der bereits in der Zwischenkriegszeit mit zwei Gedichtbänden hervorgetretenen niedersorbischen Autorin Mina Witkojc (1893-1975) steht faktenorientiertem, autobiographisch geprägtem Schreiben nahe. Doch knüpft das 53 Strophen lange Poem nicht nur an realistische und expressionistische Traditionen an, sondern es erneuert mit der freudigen Begrüßung der sowjetischen Truppen, denen die Sorben sich als slavische Brüder verbunden fühlen, romantische Strukturmuster des 19. Jahrhunderts. Während die hochtechnisierte US-amerikanische Armee, die in den letzten Kriegsmonaten die Schlacht um das thüringische Erfurt – wo die Dichterin während der Kriegsjahre lebt – geführt hat, als schemenhafte, surreale Vision wieder aus dem Blickfeld verschwindet, rücken die slavischen Soldaten, deren Kriegstechnik einfacher und zugleich vertrauter erscheint, als Garanten konservativer Zukunftshoffnungen umso stärker ins Zentrum dichterischer Beobachtung. Schon in diesem frühen Text manifestiert sich die Nähe der traditionellen sorbischen Literatur zu dem künftigen Aufbaupathos, zu dessen prominentestem Vertreter sich Jurij Brìzan wenige Jahre später aufschwingen wird.

Mit Józef Nowak (1895-1978) und seinem Gedicht „WuswobodŸeni 1945“ („Befreit 1945“) setzt sich die pathetisch-romantische Tradition der Zwischenkriegszeit fort. In aggressiverem Duktus als Witkojc rechnet Nowak mit dem untergegangenen Regime ab und heißt die neue, freilich noch nicht ausdrücklich sozialistische Zeit willkommen. Nowaks schon 1919 in dem Band „Z duchom swobody“ („Mit dem Geist der Freiheit“) dominantes national-religiöses Pathos kennzeichnet auch diesen Text. Die sorbische Literatur bemüht sich nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv um eine Wiederbelebung vermeintlich bewährter literarischer Konventionen, während die auf Jurij Chìžka (1917-1944) zurückgehende Tendenz zur Autonomie der Literatur bis in die sechziger Jahre unbeachtet bleibt.

Erneut wird die Kontinuität in der sorbischen Literatur nach 1945 zunächst durch die Lyrik garantiert. Drama und Prosa als in der sorbischen Literatur bisher nur schwach entwickelte Gattungen können erst im Zuge massiver staatlicher Förderung ihr Schattendasein gegenüber einer klar dominierenden lyrischen Gattung überwinden. Damit findet die in der Zwischenkriegszeit eingeleitete Etablierung von erzählenden und dramatischen Genres – an der beide oben genannten Autoren wesentlich Anteil haben – eine Fortsetzung, die nun freilich in ganz andere ideologische Bahnen gelenkt wird. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg ist der vorwiegend als Romancier wichtige Jurij Brìzan (geb. 1916) auf allen drei Feldern ausgesprochen produktiv. 1947 verfasst er mit dem Drama „Nawrót“ („Die Rückkehr“) einen der damals zentralen literarischen Texte zur Wiederaufbauthematik. Aber auch mit seinen öffentlichkeitswirksamen Gedichten trägt Brìzan zur gesellschaftlichen Verankerung der neuen sorbischen Literatur bei: Bände wie „Do noweho èasa“ („In die neue Zeit“. 1950), „Swìt budŸe rjeñši“ („Die Welt wird schöner sein“, 1951) oder „Naš wšìdny dŸeñ“ („Unser Alltag“, 1955) zeugen von jenem Hang zur Kollektivität, der die sorbische Kultur seit jeher bestimmt und die Ausprägung individueller literarischer Stimmen immer wieder hemmt. Zugleich verliert die sorbische Literatur ihr bis 1945 stets vorhandenes und nutzbar gemachtes oppositionelles Potenzial als Ausdrucksmedium der Minderheit. Sie wird zur Stimme der Staatsmacht, die es zum ersten Mal in der Geschichte gut mit den Sorben zu meinen scheint. Der teilweise Abschied von jener Kollektivität gelingt Brìzan in den siebziger Jahren, als er mit dem ersten „Krabat“-Roman (1976) nicht nur schriftstellerische Individualität, sondern auch die spezifische Rolle der sorbischen Literatur in der Weltliteratur nachhaltig zur Geltung bringt.

Dem sorbischen Roman wird nicht zuletzt durch die Gründung des Domowina-Verlages 1958 eine ausreichende institutionelle Basis geschaffen. Insgesamt werden der sorbischen Kultur, die bis 1945 auf das private Engagement der Autoren und Verleger angewiesen war, im Rahmen einer – stolz zur Schau gestellten – staatlichen Förderung zahlreiche Einrichtungen zur Verfügung gestellt (unter anderem: Institut za serbski ludospyt / Institut für sorbische Volksforschung, 1951; Serbski institut / Institut für Sorabistik an der Universität Leipzig, 1951; Serbski ludowy ansambl / Sorbisches Nationalensemble, 1952; Vereinigung des 1948 gegründeten Serbske ludowe dŸiwad³o / Sorbische Volksbühne mit dem Stadttheater Bautzen als Nìmsko-Serbske ludowe dŸiwad³o / Deutsch-Sorbisches Volkstheater 1963).

Marja Kubašec (1890-1976) begründet nach der Vorlage ihres Erzählbandes „Row w serbskej holi“ („Das Grab in der sorbischen Heide“, 1949) durch Übersetzungen von Werken des tschechischen Romanciers Alois Jirásek aus dem 19. Jahrhundert („F. L. Vìk“, 1957) und durch eigene Arbeiten wie die Trilogie über „Bosæij Serbin“ (1963-1967) das Genre des historischen Romans in der sorbischen Literatur. Stärker als Kubašec der sozialistischen Gegenwart verpflichtet fühlt sich Brìzan, der bereits 1958-1964 seine Romantrilogie über „Feliks Hanuš“ vorlegt. Beide Trilogien kennzeichnet der dezidierte Rückgriff auf realistische Erzählkonventionen des 19. Jahrhunderts. Wie das sorbische Drama bis weit in die Gegenwart zumeist didaktischen Zielsetzungen untergeordnet wird, so fasst die Mehrzahl der Autoren, darunter etwa Jurij Krawža (1934-1995) oder Jurij Koch (geb. 1936), auch den Roman als Mittel zur Belehrung und Volksbildung auf.

Brìzan gibt Mitte der fünfziger Jahre die Lyrik zugunsten von Prosa und Drama weitgehend auf. 1961 debütiert mit dem Gedichtband „Nowe èasy, nowe kwasy“ („Neue Zeiten, neue Hochzeiten“) der 1938 geborene Kito Lorenc, mit dessen Schaffen sich ein deutlicher Wechsel in der Entwicklung der sorbischen Literatur vollzieht. Nicht mehr in der Vorkriegszeit sozialisiert, erlebt Lorenc den allseits verkündeten und 1959 in der ersten „Bitterfelder Konferenz“ für die Literatur nochmals zur ideologischen Leitlinie erklärten Aufbau des Sozialismus aus der Perspektive des jungen sorbischen Intellektuellen. Seine dichterische Haltung gegenüber dem Sozialistischen Realismus zeigt nur während einer kurzen Anfangsphase Zustimmung. 1967 veröffentlicht Lorenc mit „Struga. Wobrazy našeje krajiny. Bilder einer Landschaft“ den ersten genuin zweisprachigen Lyrikband der sorbischen Nachkriegsliteratur. (Die sorbisch-deutsche Zweisprachigkeit hatte 1951 mit der von Jurij Brìzan übersetzten und herausgegebenen Anthologie „Auf dem Rain wächst Korn“ begonnen.) Lorenc leitet damit den Wechsel der nationalsprachlich dominierten sorbischen Literatur von der Betonung des Eigenen zur spielerischen Öffnung gegenüber anderen (Fremd-)Sprachen und damit auch anderen Inhalten ein.

„Struga“ als Versuch einer „lyrischen Kohleveredelung“ (Lorenc 1984 über seinen Band) erscheint in einer Phase intensiver Entwicklung der sorbischen Prosa. Zu den wichtigsten Erscheinungen dieser Jahre gehören Jurij Kochs Romane „Mjez sydom mostami“ („Zwischen sieben Brücken“, 1968) und „Róžamarja abo Rozžohnowanje we nas“ (deutsch als „Rosamarja“, beide 1975). Während Koch sich einer ähnlichen Thematik annimmt wie Brìzan in seinen „Feliks Hanuš“-Romanen, wählt die nicht zuletzt als sorbische Literaturkritikerin bedeutende Marja M³ynkowa (1934-1971) eine weitaus persönlichere und stärker psychologisch orientierte Schreibweise. Ihr Kurzroman „Dny w dalinje“ („Tage in der Ferne“, 1967) signalisiert nach den Texten von Mina Witkojc und Marja Kubašec ein weiteres Mal die vorrangige Rolle von Frauen in der sorbischen Literaturgeschichte, leitet doch dieser Text die langsame Abkehr von der staatlicherseits eingeforderten „Produktionsliteratur“ und die Hinwendung zu psychologisch-individuellen Fragestellungen ein. Das Sujet des Dorfschullehrers und seines Schicksals in der Zeit des Faschismus in Schlesien ist für die sorbische Literatur ebenso ungewohnt wie der bewusst unideologische, verhaltene Erzählstil, an dem sich eine Reihe von Autorinnen in den folgenden Jahrzehnten orientiert.

Mit Texten wie „Dny w dalinje“, vor allem aber mit der Lyrik von Kito Lorenc verändert sich an der Schwelle zu den siebziger Jahren auch das Verhältnis der sorbischen Literatur zu ihrer Tradition. Wird das Schaffen des bis zu Lorenc wichtigsten sorbischen Dichters, Jakub Bart-Æišinski (1856-1909), zuvor als poetische Variante eines von Bart-Æišinskis Vorgänger Handrij Zejler (1804-1872) begründeten spezifisch sorbischen Literaturbegriffs verstanden, so deutet Lorenc Bart-Æišinski nicht mehr als sorbisches Substitut für die großen Identifikationsfiguren Puškin oder Mickiewicz in der russischen bzw. polnischen Literatur, sondern er akzentuiert die evolutionäre Leistung des zu Lebzeiten meist missverstandenen Dichters. Dadurch trägt er zur Entmythisierung dieses Klassikers der sorbischen Literatur bei. Die Erweiterung der poetischen Perspektive, die intensive Rezeption der zeitgenössischen europäischen Literatur (die bei Bart-Æišinski vorwiegend über tschechische Vermittlung stattfindet), rückt nun in den Vordergrund. Lorenc betätigt sich als vielseitiger Übersetzer aus fremden Literaturen (u.a. der weißrussischen – Maksim Tank – oder der polnischen – Micha³ Sprusiñski). Aber auch Kata Malinkowa, Anton Nawka, Pawo³ Völkel oder Albert Wawrik tragen als Übersetzer zur verstärkten Rezeption v.a. mittelosteuropäischer Literatur in der sorbischen Literatur bei. Besonders intensiv gestaltet sich die Übersetzungspraxis im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Hier werden bevorzugt tschechische und slovakische Texte gewählt.

Die gattungsmäßige Differenzierung der sorbischen Literatur, die mit den Texten von Brìzan, Kubašec, aber auch von Anton Nawka (1913-1998), Mìræin Nowak-Njechorñski (1900-1990) und anderen eine enorme Beschleunigung erfährt, wird durch diese Öffnung um eine fundamentale ästhetische Neuorientierung ergänzt. Bleibt die sorbische Literatur insgesamt bis in die sechziger Jahre hinein prinzipiell der romantischen Literaturkonzeption des 19. Jahrhunderts verpflichtet, die ja im Sozialistischen Realismus zu großen Teilen wiederkehrt, so gelingt ihr durch den neuen Blick auf die eigene Tradition, u.a. auch durch die verspätete, dafür umso intensivere Rezeption eines ihrer größten Modernisten, Jurij Chìžka, sowie durch die Öffnung für zeitgenössische Tendenzen in den Nachbarliteraturen (u.a. die so genannte „Sächsische Dichterschule“ in der Lyrik der DDR) ein vermutlich existenzsichernder Schritt. Wie schon knapp hundert Jahre zuvor, zur Zeit der „jungsorbischen Bewegung“, verläuft freilich auch diese Umgestaltung nicht ohne innere Spannungen.

Kito Lorenc, dessen Bedeutung für die Entwicklung der sorbischen Literatur nach 1945 kaum überschätzt werden kann, befasst sich zu Beginn der siebziger Jahre mit der Förderung des literarischen Nachwuchses. Die aus jener Gruppe von jungen literaturinteressierten Sorben hervorgegangene Autorengeneration hat bis vor wenigen Jahren das literarische Tagesgeschehen weitgehend bestimmt.

An den öffentlichen Protest der Autoren der polnischen „Nowa Fala“ („Neue Welle“) erinnert die Poetik von Benedikt Dyrlich (geb. 1950). Sein lyrisches Debüt, der 1975 veröffentlichte Band „Zelene hubki“ („Grüne Küsse“), zeugt von einem drängenden Bedürfnis nach literarischer wie gesellschaftlicher Neuerung. Dichtung versteht Dyrlich als Dienst an der Wahrheit, die der Künstler – hierin ähnlich dem „wieszcz“ („Prophet“) der polnischen Romantik – unter Einsatz aller rhetorischen Mittel dem Volk nahe bringen soll. Die dabei anfänglich erkennbare Experimentierfreudigkeit weicht zusehends einer appellativen Strategie. Das Zerlegen und Neukombinieren des vorgefundenen Wortmaterials, Strategien, die in Dyrlichs frühen Texten noch dominieren, tritt seit dem verstärkten gesellschaftlichen Engagement des regimekritischen Lyrikers nach der Wende immer weiter zurück. Religiöse und nationale Ideologeme überlagern den zu Beginn vergleichsweise starken Impuls zu einer formalen Umgestaltung der sorbischen Literatur.

Der Blick auf die eigene Tradition, der bei Dyrlich meist den Reflex des intellektuell gestützten Bewahrens auslöst, gerät bei Marja Krawcec (geb. 1948) zur melancholisch-subjektiven Bilanz. In ihren Gedichten, die sie seit ihrem Debütband „kraj pøed špihelom“ („landschaft vor dem spiegel“, 1981) anders als Dyrlich nur in sorbischer Fassung publiziert, herrscht die Konzentration auf die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit über die exaltierte Wendung an das Publikum vor. Krawcec erprobt in ihren Texten einen in der sorbischen Literatur bisher nur in Anfängen beschrittenen Weg: Aus der eingeschränkten Kommunikation innerhalb der sorbischen Rezipientengemeinschaft zieht sie sich tendenziell noch weiter zurück, um Dichtung aus der ideologischen Vereinnahmung zu lösen und eine eigene, unverwechselbare Sprache für das Vorgefundene zu entwickeln. Lyrik gewinnt so jenen intimen Charakter zurück, den als eine der ersten sorbischen Dichterinnen Herta Wiæazec (1819-1885) hervorgehoben hat.

Die interessanteste sorbische Dichterin der neunziger Jahre ist zweifellos Róža Domašcyna (geb. 1951). Ihr Buchdebüt benennt schon im Titel das Paradox, das Domašcynas Poetik kennzeichnet: „wróæo ja doprìdka du“ („zurück geh ich voran“, 1990). In der verwirrenden Gegenwart greifen die von den sorbischen Traditionalisten propagierten konservativen Schreibstrategien immer weniger. Vor allem nach der politischen Wende von 1989 finden die zuvor von Existenzsorgen wenig belasteten Autoren kaum mehr Ausdruck für den Einbruch des Kapitalismus und der Postmoderne in den vermeintlich heilen sorbischen Mikrokosmos. Domašcyna gehört zusammen mit Kito Lorenc, dessen deutschsprachiger Band „Gegen den großen Popanz“ (1990) eine fulminante Auseinandersetzung mit dem zerfallenden DDR-Regime bietet, zu den Vorreitern einer geistigen Haltung, die auf die neu entstandene Situation nicht mit Larmoyanz, sondern mit kreativem Gestaltungswillen reagiert. Schon 1991 beginnt sie mit dem Gedichtband „Zaungucker“, ihre Texte parallel in sorbisch- und deutschsprachigen Bänden zu veröffentlichen. Aus dieser Praxis entwickelt sich im Verlauf der neunziger Jahre eine spezifische Poetik, die aus den Bestandteilen des Deutschen und des Sorbischen eine „Drittsprache“ schafft und so den ideologischen Antagonismen der bisweilen regelrecht gegeneinander gerichteten Literatursprachen ein völlig neues Konkurrenzidiom zur Seite stellt. Inhaltlich findet sie dabei von poetisch gestalteter Niederlage, Unterwerfung und Zerstörung eines androgynen passiven Subjekts zur literarischen Wiedergeburt eines klar weiblich und aktiv handelnden Subjekts, dessen Reaktionsmöglichkeiten auf Konfliktsituationen außerordentlich vielfältig sind. In Variationen der Opposition von (toter) Puppe und (lebendem) Mensch untersucht sie den Rollentausch beider im Falle sinnentleerter, zum formalen Ritual verkommener Traditionspflege, aber auch die emotionalen Komponenten der Konfrontation von Statik und Dynamik. Nicht zuletzt ihre expressive erotische Lyrik öffnet der sorbischen Literatur ein bislang weitgehend von Tabugrenzen umschlossenes Feld. Die junge Lyrikerin Lubina Šìnec (geb. 1976) schließt sich dieser Richtung in ihrem Band „pjatk haperleje“ („Freitag im April“, 1998) an.

Diese ausgesprochen innovativen Tendenzen in der Lyrik werden von ähnlichen Tendenzen in Epik und Dramatik begleitet. 1993 vollendet Kito Lorenc die Arbeit an seinem 1995 uraufgeführten „sorbischen Stück in deutscher Sprache“ „Die wendische Schifffahrt“. In diesem mehrere Stunden dauernden Monumentaldrama werden die Grundlagen sorbischer Tradition einer radikalen Neubewertung unterworfen. Der romantische Mythos von der „sorbischen Insel im deutschen Meer“ wird umgedeutet und ergänzt zu einer Dreierbeziehung zwischen Insel, Meer und Schiff. Angesichts der Feststellung, die Insel werde zusehends vom Meer verschluckt – einer der bekanntesten Versuche, die beständig schwindende Zahl der Sorben und ihre Auflösung in der deutschen Bevölkerungsmehrheit metaphorisch zu fassen –, ersetzt Lorenc die in der bisherigen Literaturtradition absolut dominierende Bildlichkeit der Insel durch das neue Bild des Schiffes. Der Wechsel von der Insel auf das Schiff bildet die Grundlage für seinen Vorschlag einer neuen Überlebensstrategie für die sorbische Kultur. Teilweise sicherlich von seinem Großvater Jakub Lorenc-Zalìski (1874-1939) und dessen Roman „Kupa zabytych“ („Die Insel der Vergessenen“, 1931) inspiriert, findet Lorenc auf literarischem Weg zur Überwindung des statisch-beharrenden Weltmodells, das in der sorbischen Literatur seit den aggressiven Versen von Jakub Bart-Æišinski zahlreiche Topoi hervorgebracht hat; an seine Stelle tritt ein dynamisches Weltmodell, das unter aktiver Aneignung der sorbischen Tradition den mutigen Aufbruch in die Zukunft, zumindest jedoch in die Gegenwart vorschlägt. Durch seine Weigerung, dieses Stück in einer deutschen und zugleich einer sorbischen Parallelfassung vorzulegen, demonstriert Lorenc auch pragmatisch die neue Qualität dieses literarischen Weltmodells. Ihm gelingt mit der „Wendischen Schiffahrt“ ein ähnlicher Paradigmenwechsel für das Drama, wie er mit „Struga“ für die Lyrik angesetzt werden kann.

Die Prosa der neunziger Jahre zeigt sich nach wie vor von ihrem Nestor Jurij Brìzan bestimmt, der 1994 seinen zweiten „Krabat“-Roman fertigstellt. Ging es im ersten Roman noch um die „Verwandlung“ der Welt in eine humanere, von Antagonismen zwischen Arm und Reich, Mächtig und Schwach nicht mehr zerrissene, was durch den mythischen Kampf des Titelhelden Krabat mit seinem Gegenspieler Wolf Reissenberg symbolisiert wurde, so stellt sich im zweiten Roman die „Bewahrung“ der Welt vor einer technisch herbeigeführten ökologischen Katastrophe als Hauptaufgabe dar. Können beide Gegner im ersten Roman nur auf freiwilliger Basis Partner werden, so sehen sie sich im zweiten Roman zur Zusammenarbeit gezwungen, um den gemeinsamen Untergang zu verhindern. Mit beiden Texten trägt Brìzan zur Stabilisierung einer spezifisch sorbischen Romanpoetik bei, die in den Aufbau- und Produktionsromanen der vergangenen Jahrzehnte regelmäßig gescheitert war. Durch die kreative Einbindung sorbischer Mythologie gelingt Brìzan bei gleichzeitiger Überschreitung sozialistischer Literaturschablonen die Schaffung eines überzeugenden Modells für den sorbischen Gegenwartsroman. Ohne der eigenen Poetik damit untreu geworden zu sein, kann Brìzan auf der Grundlage dieser beiden Romane auch aus nichtmarxistischer Sicht als Begründer der sorbischen Romangattung gelten. Gegenwärtig zeigt sich allerdings seit dem zweiten „Krabat“-Roman weder bei Brìzan selbst, der die vergangenen Jahre vorwiegend der Kinder- und Jugendliteratur gewidmet hat, noch bei einem seiner potenziellen Nachfolger der Wunsch zur Weiterentwicklung dieses Modells.

Neue Stimmen gewinnt die sorbische Prosa der neunziger Jahre vorwiegend im Bereich der Erzählung. Die bereits 1951 mit dem Band „Nawrót“ („Rückkehr“) eingeleitete Praxis der Kurzprosaanthologie, die in den folgenden Jahrzehnten insbesondere im Zusammenhang mit den in etwa fünfjährigem Turnus stattfindenden sorbischen Folklorefesten fortgesetzt wurde, konnte auch nach der politischen Wende beibehalten werden. Der Band „Fija³kojty èas“ („Violette Zeit“, 1996) dokumentiert den Willen der darin vertretenen Autoren, an diese Tradition anzuknüpfen; im Wesentlichen bleibt auch die sorbische Kurzprosa den Konventionen mimetischen Erzählens verpflichtet. Die wohl interessanteste Ausnahme stellt das experimentelle Schaffen von Angela Stachowa (geb. 1948) dar, die seit ihrem Buchdebüt „Halo Kazek“ („Hallo Kazek“, 1974) bis in die Mitte der achtziger Jahre das größte Innovationspotenzial auf dem Feld der sorbischen Kurzprosa aufweist. Insbesondere ihre Erzählung „Dótknjenje“ („Die Berührung“) aus dem Jahr 1980 verweist auf die Möglichkeiten sorbischen Erzählens jenseits der Gebote von Einfachheit und Verständlichkeit. Der Text antizipiert die Degeneration lebendiger sorbischer Kultur zur folkloristischen Simulation, lässt aber die Möglichkeit einer Sublimation der Krise in einem mythologischen Rahmen offen: Der Leiter eines um die ganze Welt reisenden sorbischen Folkloreensembles erweist sich zuletzt als Wassermann und damit als eine der zentralen Figuren sorbischer Mythologie. Ähnlich wie Benedikt Dyrlich droht jedoch auch Stachowa in den neunziger Jahren infolge ihres parteipolitischen Engagements zu verstummen; ihre neueren Texte gehören zum Bereich der Kinder- und Jugendliteratur (zuletzt: „Jank ze žo³tym k³obukom“ / „Der kleine Jan mit dem gelben Hut“, 2000).

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre betritt eine neue Generation von Autorinnen die literarische Bühne. Mìrka Mìtowa (geb. 1959) legt 1997 ihren Debütband „Wulìt do paradiza“ („Ausflug ins Paradies“) vor. Die darin enthaltenen Texte erproben, teils im Anschluss an Marja M³ynkowas Poetik, Möglichkeiten der Schilderung eines als verwirrend und bestürzend erlebten neuen Alltags. Etwas weiter in die Endphase der DDR reichen die Texte der 1999 mit „Ho³bik èornej nóžce ma“ („Der Täuber hat zwei schwarze Füße“) als Erwachsenenautorin debütierenden Jìwa-Marja Èornakec (geb. 1959) zurück. Beiden Autorinnen ist die nachdrückliche Frage nach moralischen Werten in einer nicht länger ideologisch vorgeprägten Welt eigen; ebenso einig sind sich beide in der Ablehnung einer unreflektierten Übernahme tradierter sorbischer Sittlichkeitspostulate in die zeitgenössische ostdeutsch-sorbische Gesellschaft. Am deutlichsten in Richtung einer neuen experimentellen Prosa gehen einzelne Texte aus „Seklojta šæežka“ („Verschlungener Pfad“, 1999), dem Erzähldebüt der 1953 geborenen Dorothea Šo³æina. Ähnlich wie Stachowa greift Šo³æina Elemente aus der sorbischen Mythologie auf, um sie vor der Folie der kapitalistischen Wegwerfgesellschaft verfremdet wiederzugeben.

Die relative Dominanz von weiblichen Autoren in der neueren sorbischen Literatur erscheint aus dieser Perspektive deutlich gestärkt. Zugleich mehren sich die Anzeichen für einen endgültigen Abschied von den über lange Jahrzehnte hinweg als gültig empfundenen Mustern. Aus der dominant männlichen, schematischen und ideologisch weitgehend linientreuen sorbischen Literatur der DDR beginnt sich eine zunehmend weibliche, experimentelle, vieldeutige und ideologieferne Literatur zu emanzipieren. Während von den zwischen 1945 und 1990 entstandenen Texten insgesamt wohl nicht sehr vieles dem Vergessen entgehen wird, erweist sich schon an den Texten der Wendezeit das neu erfahrene kreative Potenzial der sorbischen Literatur. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber den „größeren“ deutschen, polnischen oder tschechischen Nachbarliteraturen ergibt jenen unabdingbaren Bestandteil im Gesamtbild der europäischen Literatur, den bei Jurij Brìzan das Wasser des sorbischen Flusses Satkula für die Weltmeere bildet.

 


 

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