Susanne Hose, Ines Keller
Ethnografie und Folkloristik. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte
1. Anfänge einer volkskundlichen Beschreibung bei den Sorben bis zur Aufklärung (17. und 18. Jahrhundert)
Ihre ersten gedruckten Belege gewann die sorbische Volkskunde aus den „Schulbüchern“ der Humanisten für den Unterricht an den Lateinschulen in den mittelalterlichen Städten. Jan Rak (1457–1520) – Professor u.a. an der „Viadrina“ in Frankfurt / Oder – berichtete, er habe seinen Studenten auch volkskundliche Probleme erläutert, wie etwa Ethnogenese, Volksnahrung, Gesetze, Sitten, Bräuche, Siege und Triumphe der Vorfahren. Über die Inhalte seiner Vorlesungen und somit über den Alltag der Bevölkerung im späten Mittelalter wissen wir jedoch nur wenige Einzelheiten. Zum großen Teil waren die Sorben Ackerbauern und Viehzüchter. In den weitläufigen Lausitzer Heideflächen ernährte man sich mehr schlecht als recht von der Köhlerei. Der Dreißigjährige Krieg hatte in der Lausitz schwere Schäden verursacht. Die Kriegswirren mit Plünderungen und Verwüstungen und die sich daran anschließenden Hungersnöte und Seuchen entvölkerten Dörfer und ganze Landstriche. Darüber hinaus sorgte die Ausplünderung der ländlichen Bevölkerung durch die Lausitzer Gutsherrschaft für Verarmung und soziale Verelendung der dörflichen Bevölkerung.
Die Lausitz wurde zu jener Zeit bereits von wichtigen europäischen Handelswegen in west-östlicher und süd-nördlicher Richtung gekreuzt. Die bedeutendste Verbindung war die Hohe Straße, die von Frankfurt am Main über Leipzig, Bautzen, Görlitz, Breslau und Lemberg in den Fernen Osten führte. An den Schnittpunkten der Handelswege entstanden Marktflecken, an denen Händler und Fuhrleute nicht nur ihre Waren, sondern auch Erzählungen und Nachrichten austauschten. Viele der mittlerweile weltweit bekannten Märchen- und Sagenmotive und der Sprichwörter haben sich auf diese Weise in ganz Europa herumgesprochen. So finden wir auch im Sorbischen die Belege für solche bekannten Sprichwörter wie Ruka ruku myje = Eine Hand wäscht die andere oder Wróna wrónje woèi njewudypa = Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus.
Der Lausitzer Historiograph Abraham Frencel (1656–1740) war der erste, der etwas ausführlicher über die Lebensweise seiner Landsleute berichtete. In seiner um 1700 entstandenen „Historia populi et rituum Lusatiae Superioris ...“ sind Beobachtungen über die Kleidung, über die Sitten und Gebräuche, über das Arbeitsverhalten und das Rechtswesen der Oberlausitzer Sorben niedergeschrieben. Zu den Essgewohnheiten heißt es da beispielsweise: „Man gibt sich zufrieden mit dem, was die Wirtschaft einbringt. Sonntags gibt es Buchweizen und manchmal frisches oder getrocknetes Fleisch; jedoch von Schinken weiß man nichts. Werktags ernährt man sich von Suppen, Milch, Graupen, Hirse, mit heller und dunkler Mehltunke, Mehlklößen, Kraut, Rüben, Möhren, Erbsen, Obst, mit Brot, Butter, Käse und Quark; zu Festtagen gibt es auch Kuchen. Was das Geschirr anbelangt, so will der Sorbe von Zinn oder Porzellan nichts wissen, sondern braucht irdenes Geschirr, Holzkannen und -löffel; überhaupt kauft er nicht allzuviel von derartigem Gerät.“ (Frencel 1700)
Kuchen und Backwaren aus weißem Teig waren als außergewöhnliche Köstlichkeit und Genussmittel den Festtagen vorbehalten. Ihren Seltenheitswert auf der bäuerlichen Speisekarte unterstreicht das überlieferte Spruchgut, wenn es dort heißt: H³ódnej hubje je suchi chlìb DrježdŸanska ca³ta (= Dem hungrigen Mund ist trockenes Brot eine Dresdner /weiße/ Semmel). Noch heute ist in ländlichen Regionen das blechweise Kuchenbacken und großzügige Bewirten eingeladener Gäste zur Kirmes oder zu Familienfeiern üblich.
Die Bevölkerung des Spreewaldes bei Cottbus nutzte auf dem dortigen engen Wasserstraßennetz den Kahn für alle Transporte. Der mit einem vier Meter langen Ruderstab zu schiebende und steuernde Kahn gehört auch heute noch zum gängigen Bild vom Spreewald und dient vorzugsweise der Beförderung von Touristen.
Die ersten detaillierteren Darstellungen von Sitten und Brauchtum der Sorben gehen auf Jan Hórèanski (1722–1799) zurück. Hórèanski beschrieb vor allem die Lebensart der östlich von Bautzen lebenden evangelischen Sorben. Deren Höflichkeit beim Grüßen schien ihm besonders hervorhebenswert: „Der Besuchende spricht pomhaj Bóh (Gott helfe). Der Wirt antwortet Bóh wjeršny pomhaj (der allmächtige Gott helfe) und fügt hinzu k nam witajæe (seid uns willkommen). Der Besuchende dankt Bóh wjeršny pomhaj (der allmächtige Gott helfe). Beim Abschiednehmen spricht der Hinweggehende budŸæe Bohu poruèeni (seid Gott empfohlen). Ihm wird geantwortet pøewodŸ Bóh (Gott begleite euch).“ (Hórèanski 1782)
Der offizielle Gruß ist heute Dobry dŸeñ (obersorbisch) / Dobry Ÿeñ (niedersorbisch) und zum Abschied Božemje (obersorbisch/niedersorbisch), Mìj so rjenje (obersorbisch) / Mìj se derje (niedersorbisch). Unter einigen evangelischen Sorben in der Oberlausitz ist auch Pomhaj Bóh und der entsprechende Dank Wjerš pomazy noch zu hören. In der katholischen Lausitz grüßt man zuweilen mit BudŸ chwaleny Jesus Christus und dankt mit Na wìki amen.
Hórèanski gehörte ebenso wie Karl Gottlob von Anton (1751–1818), der auch von Herder geschätzte Verfasser der für die Entwicklung der Slawistik so wesentlichen Schrift „Erste Linien eines Versuches über der alten Slawen Ursprung, Sitten, Gebräuche, Meinungen und Kenntnisse“ (1783 und 1789), zu den führenden Persönlichkeiten der 1779 ins Leben gerufenen Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz. Dieser weit über die Grenzen der Lausitz ausstrahlende Kreis deutscher und sorbischer Aufklärer weckte das Interesse am Sorbischen und befruchtete das sorbische Geistesleben bis ins 19. Jahrhundert hinein.
2. Die Ausbildung der sorbischen Volkskunde im 19. Jahrhundert
Ähnlich wie sich die deutsche Volkskunde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Verein mit der Germanistik herausbildete, standen sorbische volkskundliche Arbeiten häufig in einem slawistischen Zusammenhang. Der Anstoß zur Beschäftigung mit dem mündlichen Überlieferungsgut ging in entscheidendem Maße von dem 1716 in Leipzig gegründeten und 1814 erneuerten Wendischen Predigercollegium aus. Die Sammelarbeit erlebte dort im 19. Jahrhundert einen beachtlichen Aufschwung. Leipzig gilt auch deshalb als der „Geburtsort der sorbischen Romantik“ (Ota Wiæaz). Studenten beschäftigten sich in Übungsstunden mit der Vervollkommnung ihrer Muttersprache. Das Bemühen um ein Wörterbuch löste eine breite lexikalische und folkloristische Sammelarbeit aus, deren eindrucksvollster Vertreter Handrij Zejler (1804–1872) wurde. Um eine Dichtung zu schaffen, die auch vom Volk aufgenommen werden konnte, schöpfte er aus der Volkspoesie, was besonders in seiner sprachlich einfachen, volksliedhaften Lyrik und seinen märchenhaften Fabeln zum Ausdruck kommt.
Neben den Pfarrer und Dichter Zejler trat der volkskundlich interessierte Slawist Jan Arnošt Smoler (1816–1884). Seine zusammen mit dem Sekretär der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, Leopold Haupt, herausgegebene Volksliedersammlung „Pjesnièki hornych a del'nych £užiskich Serbow – Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“ (Grimma 1841/1843) enthält 331 ober- und 200 niedersorbische Volkslieder mit Noten und Textvarianten. Der umfangreiche volkskundliche Anhang erfasst neben Sprichwörtern und Redensarten auch Volkserzählungen und Abhandlungen über den Volksglauben, über Trachten und so weiter. Dazu kommt eine statistisch-geographische Beschreibung der Ober- und Niederlausitz mit einer Karte des sorbischen Sprachgebiets um 1840. Erstmals wurden Aussagen über das ländliche sorbische Volk auf Grund eines konkreten empirischen Befundes gemacht, wobei sich Smoler in der Wahl seiner Methode und Darstellungsart auf der Höhe seiner Zeit befand, was u.a. als ein Resultat seiner gediegenen Ausbildung in Breslau bewertet werden darf. Noch als Theologiestudent hörte er Vorlesungen über das deutsche Volkslied bei Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) und während seines anschließenden Slawistikstudiums Vorlesungen zur slawischen Philologie bei František Ladislav Èelakovský (1799–1852). Bereits 1838 gründete er an der Breslauer Universität einen akademischen Verein für Lausitzer Geschichte und sorbische Sprache, auf dessen erster Veranstaltung er über das obersorbische Volkslied referierte.
Als die erste volkskundliche Monographie über die Sorben bilden die „Pjesnièki“ ein Standardwerk sowohl der Sorabistik als auch der Volkskunde. Sie vermitteln einen Einblick in die Lebensweise der sorbischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert, die überwiegend von der ländlich-bäuerlichen, dominant patriarchalischen Wirtschaftsweise geprägt wurde, wie der folgende Textauszug belegt: „Der Mann steht in der wendischen Familie als Wirth (hospodar) und Hausvater überall oben an. Er ist und heißt da, wo er über eine einigermaßen bedeutende Wirtschaft zu gebieten hat, der Herr (knjez). Die Frau unterwirft sich seinem Willen in der Regel und wagt es nicht, ihm mit unbescheidenen Worten zu widersprechen oder sich über ihren Wirkungskreis ungebührlich zu erheben. Während er die Arbeiten leitet und selbst mit dem Pfluge oder der Egge das Feld, mit dem Wagen in den Wald zieht, besorgt sie das Vieh und die Kinder, pflanzt und jätet und graset mit den Mägden, bäckt und kocht und hält das ganze Hauswesen in Stand und Ordnung, bessert die zerrissenen Kleider aus und beschickt mit fleißiger Hand Alles, was in den Kreis der weiblichen Verrichtungen gehört. Die Kinder müssen frühzeitig schon als Hüter des Viehes, als Pflugtreiber und mit Spaten, Hacken und Rechen tätig sein. Gehorsam wird ihnen oft auf empfindliche Weise mit der Rute eingeprägt. Das Gesinde (èeledŸ) folgt den Worten des Hausherrn und der Hausfrau, auch die schon erwachsenen Kinder, die in der Wirtschaft als Knechte und Mägde verwendet werden, ordnen sich dem Willen der Eltern und das Ganze einer wendischen Familie bietet uns so das Bild einer geordneten patriarchalischen Alleinherrschaft dar.“ (Haupt/Smoler 1843)
Die wichtigsten Existenzgrundlagen bildeten die Landwirtschaft und das dörfliche Handwerk, etwa des Zimmermanns, Maurers, Schmiedes oder Tischlers. Infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft, einer geregelten Schulbildung und der nach 1850 voranschreitenden Industrialisierung begann sich die Lebens- und Wirtschaftsweise jedoch zu wandeln. Die sozialen Unterschiede wurden krasser. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung suchte besonders in der Niederlausitz Arbeit in der Industrie. Vor allem in den reicheren Gegenden der Oberlausitz nahmen die Bauern schnell moderne, bürgerliche Lebensformen an. Dadurch lösten sich solche traditionellen Sitten wie die Tischgemeinschaft von Bauern und Gesinde allmählich auf. Mit dem Analphabetentum schwanden auch gewohnte Erzählgelegenheiten. Mit den zunehmenden bürgerlichen Freiheiten fand unter anderem der „öffentliche Tanz“ Eingang ins Dorf. Anstelle der alten, von Volkmusikanten mit dem Dudelsack, der dreisaitigen Geige, der Tarakawa und Flöten gespielten Tänze traten Walzer, Galopp, Schottisch u.a.m., die von klangstarken Kapellen intoniert wurden. Ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gründeten sich in vielen Dörfern der Lausitz Gesangsvereine, die neben dem gemeinsamen Chorgesang auch das Theaterspiel pflegten und somit das kulturelle Leben im Dorf maßgeblich bestimmten.
Aus der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde wissen wir, dass kulturelle Erscheinungen besonders dann auf sich aufmerksam machen, wenn sie aus dem Alltagsleben der Menschen zu verschwinden beginnen. Am deutlichsten wurde dies im 19. Jahrhundert, in dem sich das Arbeitsleben der Menschen durch den technischen Fortschritt grundlegend änderte. Im Gegensatz zu den sich schnell industrialisierenden Teilen West- und Südsachsens blieb im sorbischen Siedelgebiet der Ober- und Niederlausitz eine ursprüngliche bäuerliche Kultur in all ihren Komponenten – Bauweise, Gerätschaften, Tracht, Brauchtum und Folklore – zunächst erhalten. Das machte Land und Leute auch für andere, vor allem deutsche und tschechische Reisende und Volkskundler interessant. So zeichnet der Leipziger Literart Carl Thieme ein eher romantisches Bild von den Sorben, indem er das Leben der Großstadt der ländlichen Idylle gegenüberstellt: „Es ist traurig, dass das echt Volkstümliche, das unbewusste, fröhliche Treiben der Massen in unserm lieben Vaterlande überall da zu schwinden droht, wo die Kultur ihre flachern oder tiefern Furchen zieht. Hier, bei den Wenden, findet ihr noch in aller Frische solch urwüchsiges volkstümliches Behagen an gemeinsamer Lust, das himmelweit verschieden ist von dem gierigen Jagen nach Genuss oder dem philisterhaften Umhergaffen, wie es sich zum Beispiel auf den Schießwiesen größerer Städte zeigt.“ (Thieme 1850) Die weltanschaulich motivierte Suche nach den Quellen des volkstümlichen Lebens stieß hier auf einen noch lebendigen Fundus. Für viele volkskundlich interessierte Sammler entstand jedoch der Eindruck, eine letzte Ernte einzubringen. Sie spürten, dass ihre Bemühungen um das traditionelle Überlieferungsgut auch bei den Sorben mit dessen Rückzug zusammenfiel, wie sie es innerhalb der deutschen Tradition bereits beobachtet und als bedauerlich empfunden hatten.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt als Zeit der beharrlichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kulturgeschichte und Sprache der Sorben. Ein beredtes Zeugnis für das Streben, soviel wie möglich an traditioneller Lebensart und entsprechenden Äußerungen zusammenzutragen und zu veröffentlichen, lieferte das sich zu jener Zeit entwickelnde Zeitungswesen. Große Verbreitung fanden die Jahreskalender in Buchform. So erschien der evangelische „PøedŸenak“ seit 1855 in einer Auflagenhöhe von bis zu 5 000 Exemplaren. Innerhalb der auf Smolers Initiative nach tschechischem Vorbild gegründeten wissenschaftlich-kulturellen Gesellschaft „Maæica Serbska“ entwickelten sich fachspezifische Sektionen. Volkskundliche Fragen wurden von der Abteilung Altertümer behandelt. Zum Programm dieser Sektion gehörten u.a. die Erforschung und Beschreibung der Mythologie sowie der Sitten und Gebräuche. Die umfangreichsten Materialsammlungen dazu finden wir in der Zeitschrift „Èasopis Maæicy Serbskeje“ und in der 1860 von dem Pfarrer Micha³ Hórnik (1833–1894) ins Leben gerufenen obersorbischen literarischen Zeitschrift „£užièan“. Hórniks Sinn für die Sprachfolklore war in entscheidendem Maße während des Studiums in Prag geprägt worden; mit ihm nahm die Tätigkeit der Sektion Altertümer innerhalb der Maæica einen beachtlichen Aufschwung.
3. Die „mukasche“ Epoche
Arnošt Muka (1854–1932) war die zentrale Gestalt des sorbischen Kulturlebens in der Zeit um die Jahrhundertwende. Als Gelehrter verschaffte er der Sorabistik internationale Anerkennung und hat, über seine philologischen Interessen hinaus, „sorbische Volksforschung im weitesten Sinne des Wortes betrieben“ (Pawo³ Nowotny). Seine „Statistika ³užiskich Serbow“ (= Statistik der Lausitzer Sorben, 1886), für deren Erfassung er das gesamte zweisprachige Gebiet durchwanderte, nimmt innerhalb der sorbischen Volkskunde den Rang eines Lehrbuches für moderne ethnosoziologische Untersuchungen ein. Seine Beobachtungen zum Alltagsleben innerhalb der zweisprachigen und teilweise noch einsprachig sorbischen Dörfer und Gemeinden sind über seine statistischen Angaben über Dichte und Grenzen des sorbischen Siedelgebietes hinaus für diachron geführte volkskundliche Untersuchungen von enormen Wert. Muka beschreibt wie folgt das Marktleben nach dem Gottesdienst in Peitz, das bereits annähernd 200 Jahre zuvor die Aufmerksamkeit Frencels auf sich gezogen hatte: „Tu witachu so znaæi wutrobnje a radosæiwje z ruku a ze s³owom wote mše, tam rozmo³wjachu so pøeæeljo a pøeæelnicy ze wšelakich wsow, tam dale chwatachu starobliwe hospozy domoj, zo bychu wobjed w prawym èasu zhotowa³e. Mužscy dŸìchu poma³u a so ze sobu rozmo³wjejo we swojich do³hich serbskich kabatach, kotrež bìchu zwjetša z èorneho, z dŸìla tež z módreho suknja, prìdku z dwìmaj rjadkomaj swìt³ych mosaznych bublinkow. Na h³owach mìjachu nimale wšitcy dorosæeni, stari kaž m³odŸi, obligatne wojerske èapki – bì tola kóždy z nich hotowy wojak a rjek – a jenož nìkotøi èornopjelsæowe k³obuèki, šulscy hólcy pak wšìdne ‘mìcki’. Na kabaæe b³yšæachu so pola mnohich wojerske znamjenja a rjady. Spod kabata pak bì zwjetša pisany lac a woko³o šije pisane rubiško widŸeæ. Cholowy, najbóle wšì èorne, dosahachu pøez nakoleñcy škórni. Pod pažu njeseše jich wjele nimo serbskich spìwarskich swój pøedešænik.“ (= Hier begrüßten sich die Bekannten herzlich und freudig mit Handschlag und Kirchgangsgruß, dort unterhielten sich Freunde und Freundinnen aus verschiedenen Dörfern, dort weiter hinten eilten sorgende Hausfrauen nach hause, um das Essen zur rechten Zeit bereit zu haben. Die Männer gingen langsam und miteinander ins Gespräch vertieft in ihren langen sorbischen Röcken aus größtenteils schwarzem, teilweise auch aus blauem Tuch, mit zwei Reihen blanker Messingknöpfe vorn. Auf den Köpfen trugen alle Erwachsenen, alt wie jung, die obligatorische Militärmützen – bekannte sich doch jeder von ihnen als gestandener Soldat und Held – und nur wenige schwarze Filzhüte, die Schuljungen aber trugen ihre täglichen Mützen. An den Röcken blinkten bei vielen militärische Auszeichnungen und Orden. Unterm Rock sah man meistenteils eine bunte Weste und um den Hals ein buntes Tuch. Die meist schwarzen Hosen reichten über die knielangen Stiefel. Unterm Arm trugen viele außer dem sorbischen Gesangbuch ihren Regenschirm. Muka 1886, ins Deutsche übersetzt S.H.)
Den letzten Anstoß für Mukas statistische Erhebungen hatte ein Buch des deutschen Volkskundlers Richard Andree (1835–1912) gegeben. Dessen „Wendische Wanderstudien“ (1874) charakterisieren das sorbische Volk als lediglich ethnografische Kuriosität mit kaum einer Überlebenschance. Andree hatte sich auf die demografischen Daten der amtlichen Volkszählung gestützt, deren Verbindlichkeit und Aussagekraft Muka anzweifelte, weshalb er sich selbst ins Terrain begab.
Unter den deutschen Volkskundlern, die sich an der Sammelarbeit im sorbischen Teil der Lausitz beteiligten, verdient wegen seiner Aufgeschlossenheit und Gründlichkeit besonders Wilibald von Schulenburg (1846–1934) Aufmerksamkeit. Schulenburg hatte über sein Interesse an der Malerei zur niedersorbischen Volkskultur gefunden. Dem vorherrschenden Zeitgeist entsprechend, konzentrierte er sich auf das Sammeln von Sagen, Sitten und Bräuchen sowie Glaubensvorstellungen in der Niederlausitz. Die Ergebnisse veröffentlichte er 1880 und 1882 in seinen Büchern über Volkssagen und Bräuche. Darüber hinaus publizierte Schulenburg in verschiedenen deutschen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Zeitschriften und machte dadurch die sorbischen kulturellen Erscheinungen einem breiteren Publikum zugänglich.
Arnošt Muka suchte ständig nach Mitstreitern auf dem Gebiet der Volkskunde. Besonderen Beistand gewährte er Jan Radyserb-Wjela (1822–1907) bei der Herausgabe von dessen 9 216 Sprichwörter, sprichwörtliche Redensarten und Vergleiche umfassender Sammlung „Pøis³owa a pøis³owne hrónèka a wus³owa Hornjo³užiskich Serbow“ (= Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten und Vergleiche der Oberlausitzer Sorben, 1902). Wjela hatte im Laufe von 50 Jahren unermüdlich unter der sorbischen Bevölkerung des Bautzener Landes gesammelt und alles aufgeschrieben, was ihm in irgendeiner Weise sprichwörtlich erschien. So schuf er ein Kompendium voller authentischer Zeitzeugenaussagen, das zwar nicht in jedem Falle Sprichwörter enthielt, als Ausdruck der damals geläufigen Meinungen und Anschauungen jedoch von hohem kulturgeschichtlichen Wert ist.
Eine enge Freundschaft verband Muka mit den Tschechen Ludvík Kuba (1863–1956) und Adolf Èerný (1864–1952), die ihn tatkräftig in seiner Terrainforschung unterstützten. Kuba widmete sich dabei vor allem der Musikfolklore. Sein zeichnerisches Talent – das ihn später auch zum Maler werden ließ – nutzte er auf seinen Reisen zum Dokumentieren, indem er das Gesehene skizzierte. Èerný, ein namhafter Vertreter der slawischen Wechselseitigkeit, interessierte sich auf den gemeinsamen Wanderungen durch die Lausitz vor allem für die Volksarchitektur und für Hochzeitsbräuche. Darüber hinaus sammelte er Volkslieder und Sagen.
Èernýs Studie über „Wobydlenje ³užiskich Serbow“ (= Die Wohnweise der Lausitzer Sorben, 1889) ist die erste Arbeit zur Volksbauweise der Sorben, die erst von Eberhard Deutschmanns Monographie „Lausitzer Holzbaukunst“ (1959) fachlich erweitert und vervollständigt wurde. Möglicherweise lieferte Èernýs Studie gewichtige Vorkenntnisse für die Errichtung des „Wendischen Dorfes“ innerhalb der Ausstellung des Sächsischen Handwerks und Kunstgewerbes 1896 in Dresden, für die die Prager Tschechoslawische volkskundliche Ausstellung von 1895 ein wesentliches Vorbild gewesen war. Zu den Organisatoren der Dresdener Ausstellung gehörte auch Arnošt Muka, der die Interessen eines künftigen sorbischen Museums vertrat. Schließlich bildeten Teile des „Wendischen Dorfes“ den Grundstock für das Sorbische Museum, das 1904 im Wendischen Haus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und heute auf der Ortenburg in Bautzen seinen Platz hat.
Der Raum zwischen Spreewald und Lausitzer Gebirge wurde zu Zeiten der Wanderungen von Muka und Èerný größtenteils von sorbischer Bevölkerung besiedelt, was auch die Hausformenlandschaft entsprechend geprägt hat. Das schließt die Einflüsse deutscher Siedlungs- und Kolonisationsformen im Bergland und im Spreewald sowie der städtischen stilgebundenen Baukunst nicht aus. Im Spreewald und in der Lausitzer Heide hatte sich die alte, den eingesessenen slawischen Stämmen zugeschriebene Blockbauweise noch weitgehend erhalten. Für die Größe der Häuser war die Länge der Baumstämme maßgebend, die von Zimmerleuten mit einem Breitbeil zugehauen, übereinander gestapelt und miteinander verkeilt wurden. Ein Blockhaus stellte somit eine fest zusammengefügte Kiste dar, die an einigen Stellen auf Steinen gelagert wurde, um das Holz vor aufsteigender Feuchtigkeit zu schützen. Die Holzwände gewährleisteten hohe Wärmedämmung und hatten zusammen mit dem Strohdach ein geringes Eigengewicht, so dass sich diese Bauweise besonders für den Spreewald mit seinen sumpfigen Bodenverhältnissen eignete. In der Oberlausitz dagegen baute man vorzugsweise mit Fachwerkkonstruktionen. Als eine Besonderheit dieser Region dürfte das Umgebindehaus (polnisch: dom przys³upowy) gelten. Es stellt die ideale Verbindung zwischen wärmeregulierender Blockbauweise und dem einfacheren, Holz sparenden Fachwerkbau dar. Außerdem konnte mit Hilfe des Fachwerkes zweigeschossig gebaut werden. Die Blockstube wurde dabei als völlig eigener Baukörper in das Fachwerkhaus integriert und ist von der das Obergeschoss bzw. das Dach tragenden Stützkonstruktion – dem sogenannten Umgebinde – vollkommen unabhängig. Das Umgebindehaus ist die vor allem für die Oberlausitz, für Nordböhmen und Schlesien typische Hausform.
Die Gliederung der Haus- und Gehöftformen war bestimmt durch die Form des Zusammenlebens von Mensch und Tier unter einem Dach oder in getrennten Gebäuden. Wir unterscheiden für das sorbische Gebiet drei Gruppen: 1. Wohnstallhäuser, die alle Wohn- und Wirtschaftsräume unter einem Dach vereinen, 2. Höfe mit getrennten Wohn- und Wirtschaftsgebäuden in Form unregelmäßiger Haufenhöfe und 3. die für Mitteldeutschland typische regelmäßige Gehöftanlage in Form von Drei- und Vierseithöfen.
An der Bauweise eines Hauses ist der jeweilige soziale Status des Eigentümers recht deutlich abzulesen. So waren die Großbauern bereits im 19. Jahrhundert in der Lage, ihre Häuser aus Stein zu errichten. Klein- und Mittelbauern bedienten sich dagegen weiter der herkömmlichen Holzbauweise, jedoch in Ober- und Niederlausitz unterschiedlich lange. In der Oberlausitz sind seit etwa 1870 keine traditionellen Holzhäuser mehr gebaut worden, das Fachwerk- und Umgebindehaus wurde von farbigen Putzbauten abgelöst. In der Heidelandschaft um Hoyerswerda, Schleife und Cottbus ersetzte der Ziegelrohbau das Blockhaus.
4. Sorbische Volkskunde zwischen den Weltkriegen
„Volkskunde muss praktisch betrieben werden.“ Mit diesen Worten brach Oskar Seyffert (1862–1940), der in den zwanziger Jahren als Professor an der Akademie für Kunstgewerbe in Dresden wirkte, in die Niederlausitz zu einer Bauernhochzeit auf, an der er beobachtend teilnahm. Detailliert beschrieb er die Speisenabfolge: „Zwei lange Tische sind festlich gedeckt. Goldgelbe Butter, zu Bergen aufgetürmt, hausschlachtene Blut- und Leberwurst und große Haufen von Käsestücken laden zum Mahl. Dazwischen liegt das runde Brot und winken die Gläser, bis an den Rand mit Lager- und Braunbier gefüllt. Auch Branntwein und Schokoladenlimonade sind in verschiedenen Sorten vorhanden. ... Als erster warmer Gang wird Grützesuppe gegeben. ... Dann wird die Blutsuppe herumgereicht, eine Nahrung, an die sich freilich der Gast erst gewöhnen muss. Es ist eine dicke, süße Brühe aus Blut, worin Backobst aufgekocht ist. Dieses Genussmittel findet allgemeinen Anklang. Nur bei mir nicht. Ich schweige aber. ... In der Stube werden unterdes Kalbsbraten, Kartoffeln, Rotkraut, saure Gurken und süße Pflaumen aufgetragen. Selbstgebackener Kuchen folgt. Diesen Augenblick hat sich ein naseweiser Bursche auserlesen, Niespulver umherzustreuen. Die Wirkung ist bei der Überfülle von Menschen außerordentlich, erweckt aber unter den harmlosen Leuten Stürme von Heiterkeit, in welche die Kinder, die zahlreich auf der Ofenbank sitzen, helljubelnd einstimmen. Nach dem Niesen, Quieken und Husten kam frischer Zellenhonig an die Reihe, weiterhin gekochtes Rindfleisch. Den Schluss des reichen, nur etwas absonderlich zusammengestellten Mahles bilden vorzügliche Sülze und die beliebte Grützewurst. Ich habe alle Gänge gesinnungstüchtig mitgegessen und wäre bald ein Opfer meiner volkskundlichen Neigung geworden.“ (Seyffert 1920)
Unter den wenigen Forschern, die sich in der Zwischenkriegszeit mit Themen sorbischer Volkskunde eindringlich beschäftigten, war Edmund Schneeweis (1886–1964) der bedeutendste. Der ausgebildete Slawist und Germanist und spätere Dozent für slawische Volkskunde an der deutschen Universität Prag hielt sich, angeregt durch den Berliner Slawisten Max Vasmer (1886–1962), zwischen 1929 und 1930 in der Lausitz zu Studienzwecken auf. Als Ergebnis erschien 1931 mit seinem Buch „Feste und Volksbräuche der Lausitzer Wenden“ eine Monographie, wie es sie zum damaligen Zeitpunkt nicht gab und für die er vonseiten deutscher Volkstümler heftige Kritik erntete. Der komparatistischen Methode verpflichtet, verglich Schneeweis die Bräuche der Sorben im Lebens-, Jahres- und Arbeitslauf mit denen anderer slawischer Völker. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem Brauchtum um die Spinnstube (auch Spinte), wobei er sich 1929 bewusst der Niederlausitz zuwandte, weil sich dort „das Volksleben auf fast allen Gebieten ältere Züge bewahrt hat als im Süden“: „Mitglieder der Spinte sind die ledigen, unbescholtenen Mädchen des Dorfes vom 16. Lebensjahr an. In großen Dörfern gibt es mehrere Spinten, in Sielow zum Beispiel eine für Bauernmädchen und eine für Fabrikmädchen, außerdem eine für die abseits draußen im Felde gelegenen Höfe. Sie beginnen nach der Kirmes und schließen zu Maria Verkündigung (zelena Marija), vielfach schon früher. ... Es wird auch heute noch viel gesungen (wendisch und deutsch), jedes junge Mädchen muss im Laufe des Winters 40 bis 50 Lieder lernen. Der Unterhaltung in den Spinnstuben dient eine große Anzahl von Gesellschaftsspielen, sowohl der Mädchen, wie Raupen ziehen, Mühle, Bullen schlachten, Wolf reißen, Ente ziehen, Fuchs aus dem Loch, Backofen einstoßen, Scheben schütteln, als auch der Burschen, wie Öl schlagen, Kalender machen, Leder gerben und ähnliches. ... Erst nach neun Uhr dürfen die Burschen in die Spinnstube eintreten. ... Dem Hauswirt, der den Mädchen die Stube zum Spinnen überlässt, erweisen sie sich dadurch erkenntlich, dass sie ihm einen Tag lang umsonst Kartoffeln graben oder Flachs brechen helfen.“ (Schneeweis 1931)
Die Funktion der pøaza führte damals weit über die einer bloßen Arbeitsgemeinschaft hinaus. Sie war die wichtigste Pflegestätte der Volksdichtung, vor allem des Volksliedes, und auch an anderen brauchgebundenen Festen im Dorf beteiligt, etwa bei Hochzeiten oder zu Ostern. Die Mädchen wählten aus ihrer Mitte eine Vorsängerin, die kantorka, die außer für die Organisation auch für das Einstudieren neuer Lieder verantwortlich war. Die Spinnstube bot Geselligkeit für die Dorfjugend und einen legalen Ort, wo sich Mädchen und Burschen kennen lernen konnten. Offenbar kam es gerade wegen letzterem bisweilen zu polizeilichen Verboten, wie u.a. schon bei Abraham Frencel erwähnt.
Für die Zeit zwischen den Weltkriegen hat die sorbische Volkskunde insgesamt nur bescheidene Fortschritte zu verzeichnen. Der Literaturhistoriker Ota Wiæaz (1874–1952) berücksichtigte in seinen Arbeiten zwar auch folkloristische Probleme, Bjarnat Krawc (1861–1948) verfasste einige Studien zur Musikfolklore, doch lähmten die innerhalb der Wissenschaft aufziehenden deutschnationalistischen und chauvinistischen Tendenzen den Forscherdrang. Nur wenige widersetzten sich dem, etwa Friedrich Sieber (1893–1973) – der spätere Leiter des Instituts für Volkskunde in Dresden – mit seinen Sammlungen sorbischer Sagen. Aber auch er stellte schließlich seine Publikationstätigkeit bis 1945 fast völlig ein.
5. Sorbische Volkskunde nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in der nationalen Bewegung zu einem Neuanfang, der sich auch in der Gründung von Institutionen zeigte. Aus dem Bestand des 1904 errichteten und 1941 von den Nationalsozialisten konfiszierten Museums im Bautzener Wendischen Haus entstand 1957 das „Museum für sorbische Geschichte und Kultur“ in Hoyerswerda, welches seit 1988 als „Serbski muzej / Sorbisches Museum“ in Bautzen beheimatet ist. Das Freilandmuseum Lehde zeigt seit 1957 die vor 100 Jahren vorherrschende Lebensweise der Sorben im Spreewald. Heimatstuben in Heinersbrück, Dissen, Rohne und Drebkau inventarisieren vor allem Gegenstände der materiellen Volkskultur aus der jeweiligen Umgebung. Nach langen Vorkehrungen konnte 1994 das „Wendische Museum“ in Cottbus eröffnet werden, welches sich als Bewahrer der gemeinsamen kulturellen Überlieferung von Sorben und Deutschen in der Niederlausitz versteht. Am Bautzener Institut für sorbische Volksforschung entstand eine Abteilung Volkskunde, am Sorabistischen Institut der Leipziger Universität wurde Volkskunde als Lehrfach eingeführt.
Ein Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit lag zunächst auf der Sichtung der materiellen Volksgüter, was in der Vergangenheit vernachlässigt worden war. Die Lausitz gehört zu den wenigen Gebieten Deutschland, in denen sich Volkstrachten lebendig erhalten haben. Theoretische und praktische Erwägungen erforderten die Inventarisierung des Formenreichtums der Volkstrachten, was zur Herausgabe eines Sorbischen Trachtenatlasses in fünf Bänden und dessen überarbeiteter Neuauflage zwischen 1976 und 1987 führte. Noch vor hundert Jahren kleideten sich fast alle sorbischen Mädchen und Frauen in Volkstracht. Die überlieferte Kleidungsordnung wurde von der traditionellen Dorfgemeinschaft streng überwacht. Bereits 1963, bei einer Befragung in Radibor, wurde die Tendenz zum Ablegen der Tracht sichtbar. Während die einfache Alltagstracht heute mehr und mehr aus dem Bild der Lausitz verschwindet, sind die üppigen Festtrachten in zunehmendem Maße wieder bei Familien-, Dorf- und Heimatfesten zu sehen. Vier regional unterschiedliche Frauentrachten werden im Alltag noch von älteren Frauen getragen, und zwar im katholischen Gebiet um das Kloster Marienstern bei Kamenz, im Schleifer Kirchspiel, in der Umgebung von Hoyerswerda und im alten Kreis Cottbus. Bei der Entwicklung der sorbischen Volkstrachten sprachen die landwirtschaftlichen Gegebenheiten der vier Regionen deutlich mit. So trugen die Bewohnerinnen der ertragreichen Gegend um das Kloster Marienstern die teuersten und aufwendigsten Trachten. Die Regionen um Hoyerswerda und Schleife mit sandigem Ackerland und Kiefernwäldern sind dagegen landwirtschaftlich arm; die Menschen dort lebten bescheidener. Zur Kleidung nahmen sie, was der Landstrich bot: Leinwand und Wolle. Um den Stoffen edleres Ansehen zu geben, verzierten die Frauen sie mit kunstreichen Loch-, Tüll- und Kreuzstichstickereien, was den volkskünstlerischen Wert der Trachten anhob. Wertvoll erscheinen die Trachten auch durch die Überlieferung ihres vielfältigen Symbolgehalts, der den verschiedenen Lebensabschnitten der Frauen galt. Für alle Gelegenheiten des Lebenszyklus´ hatte die Tracht besondere Ausdrucksformen, die jeder Angehörige der Gemeinschaft verstand. So sehr sich die Trachtenforschung mit der Tracht und den Anlässen des Tragens, mit Verzierungen und handwerklichen Techniken beschäftigte, so wenig fragte sie allerdings nach den Trägerinnen, nach ihren sozialen Motivationen, die Tracht anzulegen.
Parallel zur Beschäftigung mit materiellen Volksgütern konzentrierte sich die Forschung seit den sechziger Jahren auf soziokulturelle Gegenwartsprozesse. Industrialisierung und Kollektivierung hatten in der Lausitz zu tiefgreifenden Veränderungen in der Sozial- und Berufsstruktur geführt, deren Einfluss auf die ethnische Substanz es zu untersuchen galt. Auf Hermann Bausingers richtungweisende Arbeit „Volkskultur in der technischen Welt“ (1961) folgte eine Auseinandersetzung über Gegenstand, Ziele und Methoden der volkskundlichen Forschung, die schließlich zum ernsthaften Wandel innerhalb dieses Faches führte. So wollte sich Volkskunde mit der Lebensweise und den kulturellen Leistungen der Bevölkerung im historischen Ablauf beschäftigen und vor der Anwendung soziologischer Methoden nicht zurückschrecken. Ein erstes Ergebnis war 1964 die historisch ausgerichtete Monographie von Siegmund Musiat, in der die Lebensweise des Oberlausitzer Gesindes im Zeitraum von 1835 bis 1918 unter besonderer Berücksichtigung der Wohnverhältnisse, der Nahrung, der Kleidung und des Gemeinschaftslebens untersucht wurde.
Die Bedeutung Pawo³ Nedos (1908–1984) für die sorbische Volkskunde ist mit der Bedeutung von Jan Arnošt Smoler, Micha³ Hórnik und Arnošt Muka zu ihrer Zeit vergleichbar. Nedos Wirken beschränkte sich nicht nur auf den engen Raum der Lausitz. Er legte an der Seite von Wolfgang Steinitz und später gemeinsam mit Wolfgang Jacobeit die Fundamente für eine dem Alltagsleben zugewandte Volkskunde innerhalb der DDR.
Der ersten, im wesentlichen von Pawo³ Nowotny entworfenen und ethnosoziologisch ausgerichteten Studie waren 1963 Befragungen in der zweisprachigen Gemeinde Radibor vorausgegangen. Die Auswertung der auf den Wandel innerhalb der sozialen und ethnischen Struktur der Bevölkerung gerichteten Erhebungen stieß auf den Widerstand leitender Parteiinstanzen und konnte daher nur in einzelnen Aufsätzen veröffentlicht werden. So schrieb Nowotny in seinem internen Bericht über die Pendler, deren Arbeitsplatz außerhalb der Gemeinde Radibor lag: „So ist für nahezu 300 Personen der Wohnort nur noch Schlafplatz, aber nicht mehr der Ort, auf den sich ihre Arbeits- und Lebensinteressen konzentrieren. Alles, was an diesem Ort vorgeht, wird zu einer Randerscheinung in ihrem Leben. Die Familienangelegenheiten, die Erziehung und Ausbildung der Kinder, die Gestaltung der gemeinsamen Freizeit absorbieren in starkem Maße die Aufmerksamkeit dieser Pendler. Dadurch tritt natürlich das Interesse an Gemeindeangelegenheiten stark zurück. Daraus erklärt sich das passive Verhalten der Pendler gegenüber kommunalen Vorhaben und den örtlichen Organisationen und deren Veranstaltungen.“ (Nowotny 1964)
Die Idee, die volkskundlich-soziologischen Untersuchungen auf die gesamte zweisprachige Lausitz auszuweiten, musste ad acta gelegt werden, obgleich die Entwicklung der Lausitz zum Kohle- und Energiezentrum der DDR den sozialstrukturellen Wandel in den sorbischen Dörfern beschleunigte. Nach langwieriger Auseinandersetzung konnte die im Auftrag der Braunkohlenindustrie unternommene Untersuchung „Groß Partwitz. Wandlungen eines Lausitzer Heidedorfes“ (1976) als Buch erscheinen, die den sozialen Strukturwandel und die kulturellen Veränderungen eines im Braunkohlenrevier liegenden Dorfes vom 17. Jahrhundert bis hin zu seiner Abbaggerung verfolgt. „Mit der rasch fortschreitenden Industrialisierung des Gebietes um Hoyerswerda verlor Groß Partwitz immer mehr seinen bäuerlichen Charakter. Um 1960 gab es nur noch wenige Familien, die als rein bäuerlich bezeichnet werden konnten. In den meisten Familien mit Landbesitz arbeitete zumindest ein Angehöriger in der Industrie oder in einem anderen nichtlandwirtschaftlichen Sektor. Wie schon berichtet, hatten nahezu alle Eltern ihre Kinder auf nichtlandwirtschaftliche Berufe orientiert, weil sie wussten, dass das Dorf dem Bergbau weichen muss und nur wenige die Absicht hatten, am neuen Wohnort die Landwirtschaft im alten Ausmaß weiter zu betreiben. Seit der Vergenossenschaftlichung hatte der Einzelbäuerliche Familienbetrieb aufgehört zu existieren. ... Dieser für Groß Partwitz charakteristische Strukturwandel der Bevölkerung hatte zur Folge, dass sich die verschiedenen Schichten in ihrer Lebens- und Wohnweise sowie in ihrem Denken und Streben einander zu nähern begannen. Das bedeutete gleichzeitig allmählichen Abbau der auf ständischer Gliederung und bäuerlichen Besitzverhältnissen beruhenden Tradition und überkommenen Wertvorstellung.“ (Nowotny et al. 1976)
Die Radiborer Untersuchungen und alle anderen Versuche einer volkskundlich-soziologischen Forschung gingen 1987 als wichtige Erfahrungen in das Projekt „Komplexe Gegenwartsforschung zur Kultur und Lebensweise in zweisprachigen Dörfern“ ein. Der Fragebogen für diese ethnosoziologische Analyse enthielt 245 Fragen zu den Komplexen demografische und soziale Struktur, Kulturrezeption, Zusammenleben zwischen Deutschen und Sorben, Zweisprachigkeit und anderes mehr. Die wichtigsten Ergebnisse, die sich besonders auf die Rezeption und die Rezipienten sorbischer Kultur bezogen, fasste Ludwig Elle in seinem Buch als „Sorbische Kultur und ihre Rezipienten“ (1992) zusammen.
6. Ausblick
Sorbische Volkskunde versteht sich heute als ein Zweig der Kulturwissenschaften bzw. Ethnologie, der sich sowohl mit kulturgeschichtlicher als auch empirischer Methodik der gegenwärtigen Realität bei den Sorben widmet. Gegenstand der Forschung sind alle Erscheinungen im Volksleben, die sich seit den gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen im Laufe der letzten 150 Jahre zeigen. Dabei geht es nicht um die Suche nach altertümlichen Relikten, sondern um das Aufspüren neuer, funktioneller Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen kulturellen Phänomenen und um deren Erklärung. Welche Rolle spielt das „Sorbische“ innerhalb der Kulturrezeption? In welcher Beziehung stehen Volkskultur und „gepflegte“ Kultur? Wie äußert sich „Sorbisches“ bei den unterschiedlichen Generationen, Geschlechtern und Gruppen? Welchen Stellenwert besitzt die sorbische Sprache? Welche Veränderungen vollziehen sich im Verhältnis von Sorben und Deutschen? Was bedeutet „hybride Identität“? Mittels vergleichender Minderheitenforschung gelangt auch die sorbische Problematik in einen breiteren Kontext.
Sorbische Volkskunde hat nicht zuletzt eine praktische Aufgabe: Untersuchungen zum Umgang der Menschen mit ihrer Kultur sollen nicht nur den aktuellen Stand dokumentieren, sondern das Bewusstsein der Menschen schärfen. Volkskultur heißt einerseits Pflege von Tradition, andererseits gegenwartsbezogene Kulturpraxis, die den heute lebenden Menschen hilft, ihrer Existenz als Sorben Sinn zu verleihen.
7. Literatur
- Anton, Karl Gottlob von
: Erste Linien eines Versuches über der alten Slaven Ursprung, Sitten, Gebräuche, Meinungen und Kenntnisse. 2 Bde., Leipzig 1783–1793 (Ndr. Bautzen 1976)
- Èerný, Adolf
: Wobydlenje ³užiskich Serbow. In: Èasopis Maæicy Serbskeje (1889), S. 97–153
- Elle, Ludwig
: Sorbische Kultur und ihre Rezipienten. Bautzen 1992
- Haupt, Leopold / Smoler, Jan Ernst
: Pjesnièki hornych a delnych £užiskich Serbow. Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz. 2 Bde. Grimma 1841; 1843 (Ndr. Berlin 1953; Bautzen 1984)
- Hortzschansky, Jan
: Von den Sitten und Gebräuchen der Lausitzer Wenden. In: Lausitzische Provinzialblätter 1782/83, erneut in: Lìtopis C 10(1967), S. 102–140
- Hose, Susanne
: Serbski pøis³owny leksikon. Sorbisches Sprichwörterlexikon, Bautzen 1996
- Keller, Ines
: Sorbische und deutsch-sorbische Familien. Drei Generationen im Vergleich. Bautzen 2000
- Muka, Arnošt
: Statistika ³užiskich Serbow. Bautzen 1884–86
- Musiat, Siegmund
: Zur Lebensweise des landwirtschaftlichen Gesindes der Oberlausitz. Bautzen 1964
- Nedo, Paul
: Grundriss der sorbischen Volksdichtung. Bautzen 1966
- Nowotny, Paul et al.
: Groß Partwitz: Wandlungen eines Lausitzer Heidedorfes. Bautzen 1976
- Raupp, Jan
: Sorbische Musik. Bautzen 1978
- Schneeweis, Edmund
: Feste und Volksbräuche der Sorben vergleichend dargestellt. Berlin 1953
- Schulenburg, Wilibald v
.: Wendische Volkssagen und Gebräuche aus dem Spreewald. Leipzig 1880
- Schulenburg, Wilibald v
.: Wendische Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin 1882
- Sieber, Friedrich
: Wendische Sagen. Jena 1925
- Sieber, Freidrich
: Natursagen der sächsischen Oberlausitz und ihrer Nachbargebiete
- Scholze, Dietrich (Hg.)
: Serbja w Nìmskej. Die Sorben in Deutschland: Sieben Kapitel Kulturgeschichte. Bautzen 1993
- Sorbische Volkstrachten. 5 Bde. Bautzen 1976–1987
- Tschernokoshewa, Elka
: Das Reine und das Vermischte. Die deutschsprachige Presse über Andere und Anderssein am Beispiel der Sorben. Münster, New York, München, Berlin 2000
- Walde, Martin
: Gestaltung sorbischer katholischer Lebenswelt. Eine Diskursanalyse der religiösen Zeitschrift „Katolski Poso³“, Bautzen 2000
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